4. Teile vom Ganzen

Fans des Buchs "Comics richtig lesen" von Scott McCloud werden an dieser Station ihre helle Freude haben, denn es geht hier um Induktion, der Prozeß der stattfindet, wenn der Zuschauer (bzw. Leser) die ihm präsentierten Einzelinformationen im Kopf zu einem Gesamtbild formt. Im Grunde geht es aber noch um etwas mehr. Da im Film bekanntlich die Zeit eine große Rolle spielt, ist es somit auch wichtig, wann und in welcher Reihenfolge diese Informationen übermittelt werden. Es wird also eine Art Netz aus Informationen gewebt und ein wenig mit der Phantasie der Zuschauer gespielt.

Ein Handlungsort wird eingeführt

Hier ist ein einfaches Beispiel dafür, was gemeint ist. Es ist nicht von anfang an klar, wo die Szene sich abspielt. Diese Information wird den Zuschauern nur häppchenweise serviert und weckt so ihr Interesse. Ganz am Anfang schon fragt man sich kurz unwillkürlich, ob man durch das Fenster hindurchschaut, oder ob es sich nur um eine Reflektion handelt. Gleich darauf stellt sich ebenso unwillkürlich die Frage, wo das Fenster sich denn befindet. Bis zur endgültigen Auflösung vergeht einige Zeit. So wird man viel stärker ins Geschehen hineingezogen, als wenn die Totale (Gesamtansicht) gleich zu Beginn gekommen wäre.

Ich glaube, der Grundgedanke ist jetzt rausgekommen. Man will nicht nur berieseln sondern "aktives Zuschauen" erreichen, und kann es in vielen Fällen sogar erzwingen. Normalerweise denkt man zuerst, so etwas wäre primär eine Aufgabe des Drehbuchs. Einige von euch werden sich sicher noch an die berüchtigte Lehrerpredigt erinnern, auch "zwischen den Zeilen lesen" zu müssen. Doch das gilt auch für die Regie. Die Wirkung ist sogar viel direkter, denn sie ergibt sich aus der unmittelbaren Wahrnehmung.

Im obigen Beispiel wurde der Handlungsort erst nach und nach preisgegeben. Auch andere Informationen können auf diese Weise präsentiert werden. Zusammenfassend kann man sagen, daß sich in den Zeitfluß einweben läßt...

Dabei ist die Methode die gleiche. Zuerst gibt man nur einen kleinen Teil der Information frei, der aber konsistent zum Gesamtbild ist. Ab jetzt ist das Interesse des Zuschauers geweckt. Dann gibt es zwei Möglichkeiten, je nachdem welche Wirkung erreicht werden soll. Man kann weitere Teile verraten und den Zuschauer die dazwischenliegenden Lücken schließen lassen bzw. erreichen, daß er es versucht. Dadurch kann man das Gesamtbild lebendiger wirken lassen. Oder man will einen Überraschungseffekt erzielen. In dem Fall läßt man den Zuschauer eine Weile im Dunklen tappen und präsentiert ihm anschließend die Lösung. Das Beispiel mit Sara und César zwei Seiten vorher entspricht genau diesem Fall. Eine klare Trennlinie zwischen beiden Fällen gibt es allerdings nicht.

Vorausgreifende Reaktion

Dieses Bild entspricht dem zweiten obigen Punkt. Zuerst fragt man sich: Was hat Sara gesehen? Warum freut sie sich und läuft hinaus? Erst später bekommen auch wir den Briefträger zu Gesicht. Ich möchte darauf hinweisen, daß zu keinem Zeitpunkt dieser Einstellung Sara und der Briefträger gleichzeitig zu sehen sind. Nur vor unserem geistigen Auge erscheint das Gesamtbild.

Zu guter Letzt kann man auch auf zukünftige Ereignisse oder Handlungen vorgreifen. Ich habe gemerkt, daß gerade dadurch eine hohe atmosphärische Dichte erzeugt wird. Vielleicht liegt es daran, daß viele Szenen in "Die kleine Prinzessin Sara" von einer außergewöhnlichen Intensität sind. Der Effekt kommt dadurch zustande, daß zuerst eine Erwartungshaltung geschürt wird, die dann voll erfüllt wird. Das kann eine bange, aber auch eine freudige Erwartung sein. Hier ist das obligatorische Beispiel.

Einstellung 1

Der Tag ist zuende und in der Szene zuvor war noch eben Becky zu sehen. Daß die Aufmerksamkeit der Kamera jetzt Sara gilt, hat seinen Grund: Sie wartet auf Becky, um mit ihr zu sprechen. Noch wissen wir es nicht genau, aber wir ahnen es zumindest, eben wegen der vorhergehenden Szene.

Einstellung 2

Dann sind auf einmal Schritte von draußen zu hören. Saras Reaktion zeigt uns, daß sie sie ebenfalls gehört hat. Mehr noch, daß sie sie erwartet hat. Wir sind inzwischen sicher. Es muß Becky sein, die durch die Schritte angekündigt wird.

Einstellung 3

Mittlerweile gilt Saras ganze Aufmerksamkeit dem Geräusch der Schritte. Der Kopf hebt sich, die Hände, die den inzwischen zum unbedeutenden Stück Papier verkommenen Brief halten, sinken zurück zur Tischplatte. Gleich wird sie handeln!

Einstellung 4

Kurz darauf sehen wir, daß es tatsächlich Becky ist, die draußen vorbeigeht.

Einstellung 5

Deshalb ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Tür öffnet, und Sara Becky zu sich ins Zimmer bittet, um ihr Gesellschaft zu leisten. Ein wenig später erfährt Becky von Sara, was wir bereits wissen, nämlich daß sie auf sie gewartet hat.

Wenn man diese drei Beispiele noch einmal Revue passieren läßt, ist auch sofort klar, daß Informationen auf mehrere Weisen übermittelt werden können. Einfach durch den Bildausschnitt, durch die Reaktionen der Charaktere oder eben akustisch. Wobei gerade das letzte jetzt den Verdacht auslöst, ob wir bei den gesamten bisherigen Betrachtungen nicht etwas entscheidendes vergessen haben.

  1. Einige Beispiele
  2. Das dreidimensionale Dilemma
  3. Eine Geschichte erzählen
  4. Teile vom Ganzen
  5. Nichts vergessen?


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Taro Rehrl (e-mail), 1998-09-20, 2002-08-17